Mittwoch, 24. Juni 2020

Quo Vadis Indien

Die Regierung Modi hat nicht nur mit einer stark steigenden Anzahl von Menschen zu kämpfe, welche am Corona-Virus erkranken. Heute waren es z.B. 14.000 und insgesamt sind in Indien bisher 395.000 Menschen vom Virus infiziert worden und 12.948 daran gestorben. In Anbetracht der Größe des Landes ist das nicht einmal besonders viel. Fakt ist allerdings, dass man nicht in der Lage ist, die ungefähre Zahl der Erkrankten zu schätzen. Das Gesundheitssystem des Landes ist ein Desaster und es gibt, wie fast überall auf der Welt, viel zu wenige Tests. Ein großes Problem ist zudem, dass jene Menschen, welche am Virus erkranken und durch die Schwere des Verlaufs Spitalspflege brauchen, auch nur annähernd eine adäquate Hilfe bekommen.

Premierminister Modi hat sich seit seiner ersten Wahl, vor sechs Jahren, stets als Macher, Reformer und Krisenmanager präsentiert. Er ist nichts davon. Jene Bilder, welche wir gesehen haben, als zig Millionen von Tagelöhnern die Großstädte verlassen haben, um aufgrund des Lockdowns in ihre Heimatdörfer zurückzukehren und in endlosen Schlangen zu den Bahnhöfen marschierten und dort in völlig überfüllten Zügen die Heimreise antraten, werden noch lange in unser Gehirn eingebrannt bleiben.

Alle diese Tagelöhner haben von einem Tag zum anderen ihr Einkommen verloren und nichts mehr zu essen. Das Wirtschaftssystem Indiens ist nicht prekär, sondern ein Desaster. Die Regierung Modi war nicht einmal in der Lage, die Heimreise der Tagelöhner, in halbwegs vernünftige Bahnen zu lenken. Viele Menschen, welche sich die Heimfahrt mit dem Zug – aus Angst vor einer Ansteckung – nicht antun wollten, oder mangels Geldes nicht leisten konnten, machten sich zu Fuß auf den Weg in ihre Heimat. Sie legen dabei oftmals mehr als 1.000 Kilometer zurück. Noch sind bei weitem nicht alle Menschen in ihren Dörfern angekommen.

In Indien hat es schon bisher viele Menschen gegeben, welche Hunger litten. Jetzt sind von einem Tag zum anderen Millionen dazu gekommen welche nicht wissen, wie sie sich morgen ernähren sollen.

Es klingt verlockend großartig, dass es in Indien seit den 1990er Jahren jährliche Wachstumsraten von 6 – 8% gibt. Es ist halt nur blöd, dass diese nicht ausreichen, um jenen zwölf Millionen Menschen einen Job zu ermöglichen, welche jedes Jahr neu auf den Arbeitsmarkt drängen. Ratet mal, wer aber genau das versprochen hat.

Wer hat versprochen, dass er mit Großprojekten wie „Make in India“, „Digital India“, „Smart Cities“ und „Clean Ganga“ Indien in den Club der großen Industrieländer katapultiert und jeder der zwölf Millionen Jugendlichen, welche jedes Jahr neu auf den Arbeitsmarkt strömen, einen Job bekommen werden. Narendra Modi und seine Partei BJP, sind nichts als Schaumschläger.

Laut indischer Verfassung gibt es keine Kasten mehr. Das ist ein Wunschtraum. Sie existieren weiterhin und teilen die indische Gesellschaft in arm und reich. Modi verfolgt eine hindu-nationalistische Politik. Seine Ideologie hebt die Größe und Einmaligkeit Indiens hervor und steht im Gegensatz zu der idealistischen Vision eines säkularen Indiens, welche von Gandhi und Nehru angestrebt wurden.

Seit Dezember 2019 gibt es ein neues Staatsbürgerschaftsgesetz für Migranten aus Afghanistan, Bangladesch und Pakistan. Konkret geht es um Minderheiten wie Hindus, Sikhs, Christen und Buddhisten, die bis 2014 nach Indien eingereist sind und damit die indische Staatsbürgerschaft erhalten. Explizit ausgeschlossen sind allerdings die Muslime, welche die Mehrheit der Migranten stellen. Nach dem Gesetzesbeschluss kam es in vielen Städten Indiens zu Demonstrationen und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Spaltung der Gesellschaft hat zugenommen und die religiösen Konflikte erreichen ungeahnte Höhen.  

Ein weiterer Schritt in die falsche Richtung „gelang“ der Regierung Modi im August 2019, als sie den Sonderstatus für die Region „Jammu und Kaschmir“ aufhob. Sie entriss somit, dem mehrheitlich muslimischen Bundesstaat die Autonomie. Seither sind „Jammu und Kaschmir“ zwei seperate, von Delhi aus verwaltete Gebiete. Damit sich die dort lebenden Menschen schnell an an die neue Situation gewöhnen konnten, hat die indische Regierung damals Maßnahmen ergriffen, welche den Lockdown in der Corona-Krise neidlos erblassen lassen.

Es begann mit Ausgangssperren, einer Zensur der Presse, der Abschaltung des Internets, sowie unregelmäßigen Sperrungen der Telefonverbindungen. Damit die Menschen gleich sehen wo es lang geht, hat man umgehend tausende Journalisten und Oppositionspolitiker eingesperrt. Verständlich, dass die Menschen ob dieser Maßnahmen nicht sehr begeistert waren und sich dennoch auf den Straßen zu Demonstrationen versammelten. Diese blieben nicht friedvoll und es kam zu gewalttätigen Unruhen. Dies ermöglichte wiederum der Regierung Modi seine Armee im Einsatz gegen die eigene Bevölkerung zu testen.

Nicht nur im eigenen Land kommt es zu zahlreichen Konflikten, auch mit dem Nachbarn China gerät die Lage zunehmend außer Kontrolle. Von den zahlreichen Zwischenfällen mit Pakistan, weiß man ja seit Jahrzehnten Bescheid.

Das Verhältnis zu China artet derzeit in eine nicht enden wollende Konkurrenzsituation aus. Es findet ein Wettrüsten zwischen den beiden asiatischen Großmächten statt, welche vor wenigen Tagen, erstmals seit 1975, auch mit mindestens zwanzig Toten an der Himalaya-Grenze ihren vorläufigen, negativen Höhepunkt findet.

Der Kampfverlauf war laut der Darstellung indischer Medien folgendermaßen:

Indische Soldaten hatten in Galwan Valley ein Zeltlager geräumt, welches von den Chinesen auf indischer Seite errichtet wurde. Kurze Zeit später sind indische Soldaten bei einer Patrouille auf einhundert chinesische Soldaten gestoßen. Es sei zu einem Handgemenge gekommen, wobei die Soldaten mit Steinen und Stöcken kämpften, welche mit Nägel und Stacheldraht bestückt waren. Der Showdown habe bei einem Abgrund stattgefunden, über den zahlreiche Soldaten in den eiskalten Fluss stürzten. Es sollen dabei mindestens zwanzig indische und auch einige chinesische Soldaten gestorben sein. China hat zu möglichen eigenen Opfern keine Angaben gemacht.

Laut der „Times of India“ hat Indien chinesische Nachrichten abgefangen, laut denen es mindestens 43 chinesische Opfer gab, wobei nicht klar ist, wie viele getötet oder lebensgefährlich verletzt wurden. Der „US News and World Report“ berichtete: „Die US-Geheimdienste gehen von 35 chinesischen Todesopfern aus, darunter ein höherer Offizier“.

Die jeweiligen Außenminister haben bereits miteinander telefoniert und sich gegenseitig die Schuld für die Auseinandersetzung zugeschoben.

Die Demarkationslinie, welche in 4.000 Meter Höhe verläuft und über die sich die beiden Länder nie einig wurden, soll derzeit von der jeweiligen Seite, durch strategisch platzierte Straßen und der Errichtung von chinesischen und indischen Außenposten, für sich beansprucht werden. Dabei handelt es sich wohl um ein hoffnungsloses Unterfangen.

Schuld an dem Desaster ist wohl die einstige Kolonialmacht Großbritannien. Es gibt mehrere Demarkationslinien, welche von den Briten geschaffen wurden. Eine aus dem Jahre 1865 nennt sich Johnson-Linie. Ihr Verlauf sieht vor, dass Aksai Chin, die Region östlich von Ladakh, Teil von Indien ist. Dann gibt es noch die Macartney-MacDonald-Linie, welche die Briten 1899 zu Papier brachten. Laut dieser, wäre der größte Teil von Aksai Chin, chinesisch. Es ist müßig zu erwähnen, dass die beiden Streithanseln das gesamte Gebiet von Aksai Chin für sich beanspruchen.

Keine Sorge es gibt auch noch andere Regionen, über welche sich China und Indien bezüglich der Demarkationslinie uneinig sind. Einen mittleren Sektor in Sikkim, im Dreiländereck China - Indien - Bhutan, sowie einen östlichen in Arunachal Pradesh.

China beansprucht den indischen Teilstaat als „Süd-Tibet“ für sich. Indien dagegen pocht auf die McMahon-Linie, eine Grenze, welche in einem Abkommen zwischen den britischen und tibetischen Behörden im Jahr 1914 festgelegt wurde. Die ungeklärten Grenzfragen wurden in den 1950er Jahren relevant. Indien wurde 1947 unabhängig und in China hatten 1947 die Kommunisten den Bürgerkrieg „gewonnen“. Während China die von den Briten gezogenen Grenzen für null und nichtig erklärte, pochten indes die Inder darauf.

Im Jahre 1959 schrieb der chinesische Premierminister Zhou Enlai einen Brief an sein indisches Gegenüber, Jawaharlal Nehru. Er offerierte ihm eine „Line of Actual Control“. Die Grenze würde im Osten entlang der McMahon-Linie verlaufen, Aksai Chin dagegen, das von Indien aus schwer zugängliche Hochplateau, wäre auf der chinesischen Seite zu finden. Leider lehnte der indische Premierminister diesen Vorschlag ab. Drei Jahre später holte sich China, im Oktober 1962, dank einer militärischen Intervention, jene Gebiete, welche ihr auf diplomatischem Weg verwehrt wurden. Die indische Armee wurde zurückgedrängt und nach 32 Tagen rief Zhou Enlai einen Waffenstillstand aus. Für Indien war diese Niederlage demütigend.

In der Gegenwart sieht es so aus, dass es 2019 zu insgesamt 660 Grenzverletzungen kam. Auf welche Art und Weise diese zustande kamen, darüber wird nirgends berichtet. Im Gegensatz zu den Grenzstreitigkeiten zwischen Indien und Pakistan, erfährt die indische Bevölkerung kaum etwas von den Streitereien mit China. Einer der Gründe könnte sein, dass das umstrittene Gebiet schwer zugänglich ist. Andererseits ist die indische Regierung zu diesem Thema sehr verschwiegen. Wenn darüber berichtet wird, dann war das in den letzten Wochen und Monaten eher so, dass die Regierung verlautbaren ließ, dass die Gespräche zu dem schwelenden Konflikt gut verlaufen.

Als die ersten Nachrichten von einem Zwischenfall an der Grenze eintrudelten, erklärte die Regierung, dass es drei Tote gegeben habe. Einige Stunden später gab es plötzlich zwanzig Opfer zu beklagen. Dies könnte allerdings auch daran liegen, dass die Region schwer zugänglich ist und viele Verwundete während der langen Wartezeit auf Hilfe, verstorben sind. Die Eiseskälte in mehr als 4.000 Meter Höhe ist ebenso nicht zu unterschätzen.

Ein Bonmot ist allerdings, welches es hingegen locker in die Medien schaffte, ist die Tatsache, dass es an der Grenze zwischen Indien und Pakistan zu einem Zwischenfall mit einer Taube kam. Diese habe, nein sorry das ist wirklich wahr, die Grenze illegal überschritten! Sie ist verdächtigt worden, im Auftrag von Pakistan, als Spion zu „arbeiten“. Die Taube wurde in einem Dorf, nahe der pakistanischen Grenze eingefangen und in einer Polyklinik geröntgt. Ein Bewohner hatte nämlich eine verdächtige Marke unter dem Federkleid entdeckt.

Diese Angaben stammen von AFP, welche ein Interview mit dem ranghohen Polizisten Rakesh Kaushal, führten. Er bekräftigte, dass auf der Marke etwas auf Urdu stehe. Außerdem sei der Name eines pakistanischen Bezirks erwähnt. Es gäbe derzeit allerdings keinen konkreten Hinweis auf einen Spionageverdacht. Ganz so abwegig ist der Gedanke einer Spionage durch den Einsatz von Vögeln allerdings nicht. Im Jahre 2013 hatten indische Soldaten einen toten Falken mit einer kleinen Kamera entdeckt.

Zurück zum indischen Konflikt mit China. Im Gegensatz zu Europa und den U.S.A., wo man die Ambitionen Chinas, seine Durchschlagskraft mit dem Bau der „Neuen Seidenstraße“ skeptisch und eine wenig kritisch beäugt, hat Indien regelrecht Angst davor. Indien hat sicherheitspolitische Ängste, welche nicht grundlos sind. China unterstützt beispielsweise den indischen Erzfeind Pakistan, bei der Errichtung eines Staudamms. Dieser wird nicht irgendwo, sondern in Kaschmir errichtet. In jener Region also, welche Indien für sich beansprucht. Der Damm ist ein Teil von Chinas „Belt-and-Road-Initiative“. Pakistan ist für Indien ein wichtiger Partner geworden.

Wenn Indien eines Tages die Corona-Krise hinter sich gelassen hat, wird die indische Regierung noch viel Arbeit im sozialen, wirtschaftlichen und diplomatischen Bereich zu erledigen haben.

Ich bezweifle stark, dass dies mit der aktuellen Regierung, welche statt Einigkeit zu schaffen, neue Gräben errichtet, möglich sein wird.

2 Kommentare:

  1. Danke für diesen ausführlichen detaillierten Bericht, der mir sehr gut gefallen hat. Seit sehr vielen Jahren interessiert mich die Geschichte Indiens! Da sie auch mit Großbritannien und den Freiheitskämpfer Mahatma Gandhi, der alles daran Setzte das Indische Folk in die Freiheit zu führen.
    Dank deinen ausführlichen Informationen habe ich wieder vieles erfahren was ich noch nicht wusste! 🦋

    AntwortenLöschen
  2. Nice post thank you Rachelle

    AntwortenLöschen